Schuberth und Schuberth
 
Escape from Schöpfwerk
 
„Unsere Aufgabe ist die große Zahl.“; Fotos Christoph Panzer

Linie
/ Escape from Schöpfwerk /

Die Großwohnanlage „Am Schöpfwerk“ in Wien-Meidling wird bis Herbst 2012 einer groß angelegten Fassadensanierung unterzogen. Ende der 1970er Jahre diskutierte eine erregte Fachwelt über die neuartigen Wohnkonzepte. Nach der Fertigstellung übernahmen Soziologen das Kommando. Was war geschehen in der Mustersiedlung? Notizen eines Aufenthaltes.

Der Frühling lässt sich nicht mehr übersehen, bald werden die ersten Bäume blühen, doch ist es wieder kalt geworden; in der Luft schwirren weiße Pünktchen die keine Blüten sind und noch Schneeflocken sein könnten, am ehesten aber verblasene Styroporkügelchen von den Stapeln aus Dämmplatten, die überall im Hof gelagert sind. Fassaden und Terrassen sind mit Gerüsten eingepackt, die losen Enden der Baustellenplanen wehen im Wind wie zum Trocknen aufgehängte Fischernetze, die irgendjemand vergessen hat. Wenn man auf der alten Hollywoodschaukel die Augen schließt und sich der Kinderlärm mit dem Windrauschen vermischt, fühlt man sich für Augenblicke angekommen in einer fernen Hafenstadt am Meer. Die weiße Arkadenstadt; auf dem Gelände der ehemaligen Froschlacken und Eisteiche errichtet. Kaulquappen und Wildenten waren danach nicht mehr zu studieren, und die 6500 Exemplare derselben Art, die bald darauf einwanderten, samt den Ratten und Tauben in ihrem Gefolge, freuten die Soziologen mehr als die Zoologen.

Gesunde Wohnungen - glückliche Menschen, stand auf dem massiven Marmorblock „Am Schöpfwerk“, gefolgt von den Namen der Politiker und Architekten. Hohe Erwartungen wurden hier in Stein gemeißelt und griffige Glücksformeln. Die Fachwelt war von dem Vorhaben angetan; das Projekt zierte die Titelseiten wichtiger Zeitschriften. Ein Modellbau, als typologisches Experiment und soziologische Demonstration. Die Planer gaben sich selbstbewusst: „Nach einer Ära städtebaulicher Prosa nach dem zweiten Weltkrieg kündigt sich in unserem Lande der Beginn einer städtebaulichen Poesie an.“ Großwohnanlage war die bevorzugte Bezeichnung. „Wir produzieren und befriedigen Vorzugsweise immer noch Luxusbedürfnisse. Unsere Aufgabe ist die große Zahl.“

Am Beginn stand die Ausstellung „Neue städtische Wohnformen“ im Jahre 1966, in der Architekt Viktor Hufnagl zusammen mit anderen Kollegen Kritik am simplen Zeilenwohnungsbau der Nachkriegsjahre übte. In der Folge wurde ein Team um Hufnagl von der Stadt Wien direkt mit der Planung für ein Demonstrativbauvorhaben beauftragt; ausgewählt wurde ein 17ha großes Grundstück im Süden Wiens, am Fuße des Wienerbergs gelegen. Angestrebt war die Neuinterpretation der Wiener Höfe, vor allem nach dem Vorbild der Gemeindebauten aus der Zwischenkriegszeit, ein bunter Mix von Wohnungstypen, eine sehr hohe Bewohnerdichte, die Vermischung von Funktionen, Verkehrstrennung, und die Anwendung vorgefertigter Bauteile. Nach langer Planungsphase wurde von 1975 bis 1980 gebaut.

Escape from Schöpfwerk
   
Im Wohnlabyrinth;
(
der aufbau 27. Jahrgang, 9/10 1972)
 
   

Mein Fremdgang bleibt bislang unentdeckt. Die Vorgängerin hatte in der Wohnung noch ein paar Gläser und Teller zurück gelassen, im Kühlschrank eine Dose Ketchup, eine Packung Kinder Pinguin, zwei Red Bull und eine halbvolle Flasche Gin. Ich kann alles gut gebrauchen. Irgendwie hoffe ich auf eine Nachricht zu stoßen, von wem? Auf der Terrasse finden sich ein Klappsessel und ein Campingtisch, die eine brauchbare Küchenausstattung abgeben. Die ersten Nächte probiere ich es auf der dünnen Wanderisomatte, doch bekomme ich kein Auge zu und besorge am dritten Tag eine Angebotsmatratze, die ich direkt auf den Boden lege. Die Stauballergie vergesse ich. Im mittleren Zimmer ist eine Zimmerpalme zurückgeblieben, abends rücke ich den Tisch und den Klappsessel dazu und ein fast wohnzimmerartiges Ensemble entsteht. Im Zustand von Möglierung: Möglichkeiten von Möblierung.

Das Gurren der Tauben ist allgegenwärtig, was sprechen sie untereinander? Die meisten Loggien sind mit Gittern und Netzen abgeschirmt. Morgens liegen in den Höfen neben dem Weg Brotfladen und Semmelbrösel bereit, die Tauben genießen über Nacht unsichtbare Fürsorge. Unter der Balkonkante ist der Taubenkot mehrschichtig auf den Waschbetonplatten aufgetragen. Ich lerne geschickt zwischen den unbenützbaren Platten durchzutänzeln. Eine angegraute Hollywoodschaukel steht noch im Schutz der Balkonplatte, der einzige Anlass, sich ungeschützt den Blicken der Hauswände auszusetzen, während die Styroporkügelchen wirbeln wie in einem falschen Frühling.

Vier Ringe mit Höfen

Der Name „Am Schöpfwerk“ dürfte auf Hebeanlagen zurückgehen, mit denen das Grundwasser nach oben befördert wurde zur Bewässerung der umliegenden Gärtnereien. Die Siedlung gliedert sich in vier große Abschnitte. Die Grundstruktur bilden Hofabfolgen mit mittigen Erschließungsachsen – als Ringe bezeichnet – die halbkreisförmig um einen zentralen Park angeordnet sind. Als Auftakt im Norden, gleich bei der U-Bahn Station, ist ein 17-geschossiges Doppelhochhaus platziert. Eine Fußgängerpassage quert den 9-geschossigen Bauteil Nordring, am Ende dieser Achse liegen eine Volks- und Hauptschule und eine Kirche. An den Kreuzungspunkten der Gebäudetrakte sind mächtige Stiegenhallen ausgebildet, mit umlaufenden Brücken und Galerien, die ursprünglich als Gemeinschafts-Wintergärten gedacht waren. Die Anzahl der Geschosse nimmt von Norden nach Süden ab; die 5-geschossigen Blöcke des Ostrings sind an den Schmalseiten abgetreppt für Terrassenwohnungen. Den Südring bilden 4-geschossige Oktogone mit internen Innenhöfen (palladianische Mehrfamilienhäuser).

Immerzu rumort etwas in diesem Betonkörper. Die Heizkörper murmeln, auch wenn sie abgedreht sind, im nächsten Zimmer gleicht das mehr einem Pfeifen oder Zischen, die Töne ändern sich, wie modulierend. Das Rauschen einer Abflussleitung, das Klappern von Schritten darüber, dort das Schlagen einer Tür. Die Anlage wie ein riesiger Klangkörper aus Stahlbeton. Nachts sind die Geräusche andere, das Nachhallen eines Stiegenlaufes, ein Knirschen wie von Möbelschieben, das Grollen einer entfernten Erschütterung. Im Pyjama mustere ich von der Terrasse aus die verdunkelten Jalousien der Wohnung über mir: kein Licht ist zu erkennen.

Hosen und Hemden hänge ich mit Kleiderhaken an die Türzargen. Die restlichen Stücke belasse ich in der Tasche. Das Verstreichen der Tage ist daran abzulesen, wie sich die Kleiderstücke über Boden, Sessellehnen und Fensterbretter ausbreiten. Wie viel an Gewand für einen Alltag doch notwendig ist! Nach Wochen beansprucht die Auswahl zunehmend Zeit, weil abgestufte Grade des Körpergeruches auf die Anlässe abzustimmen sind, die tagsüber anstehen.

Nachts schleiche ich den Fußweg unter den Betonarkaden entlang wie einer, der nicht auffallen möchte. Hier ist man nie allein. Erst ist es ein seltsames Gefühl, in einer Anlage mit so vielen Menschen auf engem Raum zusammenzuwohnen. Daran gewöhnt man sich. Abends flimmern die Lichtpunkte der Hochhausfenster wie ein Leuchtpuzzle, am Horizont im Südwesten stehen die Lichtketten der Wohntürme von Alt Erlaa, man fühlt sich dann in der riesenhaften Megacity einer fernen Zukunft, wo Städte den Planeten überzogen haben wie ein alles bedeckender Wald.

Die katholische Pfarrkirche ist aus Betonfertigteilen mit Backsteinfeldern errichtet. Auf dem erhöhten Vorplatz liegen Felsbrocken als wären sie irrtümlich vom Himmel gefallen. Ein mächtiger Campanile ragt auf als weit sichtbares Zeichen. Der Turm wirkt verwaist, oben am Ende des quadratischen Schaftes sind vier leere kreisrunde Scheiben eingelassen wie blinde Augen; hier sollten Uhren angebracht werden, die sich die Kirchenleitung aber nicht leisten konnte. Aus dem Glockenturm wird man kein Glockenläuten hören, nicht weil sie dauerhaft ausgeflogen, sondern nie eingezogen sind. Bei einer Abstimmung unter den Anrainern wurde die Bestückung mit Glocken abgelehnt und der Turm blieb stumm.

Der Altar steht im Zentrum des streng geometrischen Innenraums aus sich verjüngenden Kuben, an der Decke spielen vergoldete Mosaiksteinchen mit dem Eindruck einer sternenglänzenden Himmelskuppel. Leider ist das Flachdach überall undicht, erzählt die leidgeprüfte Pfarramtsmitarbeiterin. Dass die Begriffswelten von Architektur und Bauen voneinander zu trennen sind, gilt in der Fachwelt als akzeptierte und unbestrittene Voraussetzung. Hier wirkte das etwas haarspalterisch und vorlaut. Die fußgängergerechte Ausrichtung der Anlage bringt für die Pfarre eine unerwartete Konsequenz: ohne Vorfahrt mit dem Auto gilt sie nicht als Heiratskirche. Finanziell ein spürbarer Nachteil.

Escape from Schöpfwerk
   
Flucht aus der Utopie  
   

Die fußgängerorientierte Erschließung der Wohnungen war eine der planerischen Prämissen gewesen. Die Autos parkten in den Tiefgaragen und an den Rändern. Der Konzeption der Außenräume kam besondere Bedeutung zu; Vorbilder wie Agora, Forum, historische Marktplätze und sogar die Piazza San Marco wurden als Zeugen angerufen. Eine Stadt in der Stadt entstand; 1.705 Wohnungen für 6500 Menschen, 62 Treppenhäuser mit 2,6 km Laubengängen, 55 Hobbyräume, 1200 Stellplätze. Dennoch blieb die Anlage ein Torso. Eine Kleingartensiedlung schneidet bis heute tief in die Bebauung ein. Sie sollte einem Westring weichen, so aber kam der zentrale Park nur in halber Größe zur Ausführung.

Bautechnische Probleme folgten der Eröffnung auf den Fuß: mangelhafter Schallschutz, Schimmelbildung durch Kältebrücken, unregulierbare Zentralheizungen, Wasserschäden an Terrassen und Flachdächern.

Arkaden Café

Obwohl an diesem Sonntagnachmittag die Sonne freundlich scheint, sind in den Räumen des Arkaden Cafés die Lampen eingeschaltet und die Fenster nach draußen zur Passage mit Schnürlvorhängen und Dekorstoffen verhängt. Als Hemmschwelle für den unschlüssigen Flaneur? Der Gastraum füllt sich langsam. Man ist ins Herz des Guten-Tag-Landes vorgedrungen. Die Wirtin bleibt routiniert und aufmerksam jeder Kundschaft gegenüber. Bei ihrer Bestellung verlangen Gäste nach Augengläsern; als ihnen volle Schnapsgläser hingestellt werden, entschlüsselt sich der Code. Hier versammeln sich die Mitglieder der Einheimischen-Community, zumeist deutlich betagte Teilnehmer der ersten Pioniertrupps, die auf dem Gelände gesiedelt hatten.

Schräg gegenüber, an der halboffenen Fußgängerpassage, liegt der Penny-Supermarkt. Mit der angrenzenden Drogerie-Filiale und einem türkischen Gemischtwarenladen bildet er das Kommunikationsdreieck der Anlage. Samstagvormittags findet auf den Betonbänken der Umgebung der lokale Tranklertreff statt.

Der teuerste Rotwein im Regal ein Cuvée Stoaweit für 5,99; Red-Bull und Hochprozentiges wird auf Nachfrage von der Verkäuferin direkt an der Kasse ausgehändigt. Ein Security-Mann dreht auffällig sein Runden. Meist steht er geduldig hinter der Kassa, während die Waren auf die Laufbänder geschoben werden, danach schlängelt er durch die Verkaufsgänge, ordnet da und dort das Gemüse in den Kisten, kleine Kinder fragen ihn um Auskunft, und wenn der Ausgang von Einkaufswagen verstellt ist behebt er die Blockade, obwohl es nicht seine Aufgabe ist. Er bewahrt Haltung, ein älterer Herr schon, dunkelhäutig und groß gewachsen, die Security-Uniform steht ihm gut und verleiht ihm etwas Stattliches. Sein Basislager ist das Stehpult gleich neben dem Eingang, wo auf einem geteilten Bildschirm die Bilder der Überwachungskameras weiterspringen, als würde das einen Überblick verschaffen. Er lehnt lässig am Pult und sieht kaum hin. Das hilfsbereite Auftreten steht im Gegensatz zur strengen Aufgabe. Seine Freundlichkeit verrät sich in nichts.

Um die Nahversorgung ist es schlecht bestellt. Neben Kebab- oder Würstelständen rund um die U-Bahn bleibt noch der Besuch des Chinarestaurants etwas außerhalb der Anlage, das Eintreten in goldumrankte Zauberwelten unter tageszeitloser Kunstlichtdämmerung, Mittagsbuffet mit garantiertem Lächeln, all-inclusive. Immerhin. Von den 19 Läden und Folgeeinrichtungen zur Eröffnung sind nur wenige geblieben.

Die Ausstellung von 1966 hatte nichts weniger angestrebt als das Problem des städtischen Wohnens zu lösen, und das mit 9 Forderungen untermauert: „ ... 8. Schöpferische Aktivierung der Bewohner als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung der Persönlichkeit. 9. Der Wohnbau als verantwortungsvollste Bauaufgabe unserer Zeit erfordert höchste künstlerische Qualität“. Der planerische Blick war nach vorne gerichtet. „Wir brauchen in unserer pluralistischen Umwelt Menschen, die bereit sind, jenseits politischer und konfessioneller Begrenzungen urbane Gemeinschaften einzugehen, Menschen, die durch das gemeinsame Erlebnis des Bauens und des selbstgestalteten Zusammenlebens ohne fixierte Vorstellungen und ohne Vorurteile Begegnungen suchen.“ Eine Fachzeitschrift kommentierte: „Dem in die Sackgasse geratenen sozialen Wohnungsbau sollen neue Möglichkeiten gewiesen und die Flucht junger, begabter Architekten in die Utopie vermieden werden.“ Die fachpublizistische Aufnahme war umfangreich und freundlich: das Spectrum der Presse von 1982 vermutet sich einem Schlüsselbauwerk gegenüber, als dem vielleicht wichtigsten Wohnbau im Wien der Nachkriegszeit.

Abwärts wende ich mich …

Eines Morgens Mitte April, nach einer unruhigen Nacht voll Dröhnen und Klappern, beschließe ich entnervt bei den Nachbarn über mir vorzusprechen. Dazu muss ich über das Stiegenhaus in den Stock darüber steigen, scheuche zwei Schülerinnen beim Rauchen auf, durch einen Verbindungsraum gelange ich hinaus auf den Außengang. Alles wirkt verwaist rund um die Eingangstür, die Jalousien des Küchenfensters heruntergezogen, ob hier jemand wohnt? Nach dem Klingeln bleibt es ruhig. Schätze ich die Geräusche falsch ein, übertreibe ich? Auch in den folgenden Wochen ist abends keinen Lichtschimmer auszumachen.

Unschlüssig trete ich den Rückweg an, nach der anderen Seite des Ganges hin, schlendere ein wenig ohne Ziel herum, und entdecke so allmählich, dass alle Blöcke des nördlichen Abschnitts untereinander verbunden sind – was widersinnig scheint, weil außen die Laubengänge und Erschließungswege durch Gitter und Absperrungen abgetrennt sind. Als wenn die Organe im Inneren zusammenhingen. Man kann, unterschiedlichen Gängen und Stiegenhäusern folgend, durch sie durchwandern, ohne jemals ans Tageslicht zu geraten. Riesige Betonhöhlen, ein unendlicher Rundgang durch Korridore und Stiegenhäuser. Ein Labyrinth. Sobald man eintritt in den Organismus, ist man von dumpfem Grollen umgeben, Stimmen nahe und entfernt, wie die Höhlen von Moria, durch die Frodo mit seiner Schar einst ziehen musste. Ein Geäst aus Stufen und Vorräumen, Verengungen und Hohlräumen, irgendwo kann die Strömung weitertreiben, über ein Zwischengeschoss durch eine Brandschutztür hinüber in den Nachbarbau.

Es gibt eine Deutung, nach der das Labyrinth unter dem Palast von Knossos nichts anderes war als ein Symbol für die Größe und schiere Ausdehnung der Palastanlage, wie sie einem einfachen Landbewohner erscheinen musste, wenn er ihr gegenüberstand.

Samstagabend, rasch breche ich auf zu einem Dämmerungsspaziergang. Überall Kindergruppen, auf den Rasenflächen, unter den Tordurchfahrten, in den Zugängen, Ball spielend, herumwuselnd. In der Nähe meiner Wohnungstür spielt ein Vater mit einer Gruppe kleiner Mädchen Fußball, sie sprechen auf Deutsch mit unterschiedlichen Akzenten, mehr aus praktischer Übereinkunft. Sind das die Hafenviertel, nahe den Anlegestellen, wo die Neuankömmlinge sich niederlassen werden, für einen Anfang, riesige Binnenhafen? Die vielfältigen Abstammungen der Bewohner färben das Bild an diesem frühsommerlich warmen Tag lebendig und bunt. Migrantischer Hintergrund, sagt man, Neuösterreicher. Riesige Integrationsmaschinen, die zu funktionieren scheinen. Ist es die Ankunft in einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten oder der begrenzten Unmöglichkeiten? Ist das Österreichische in seinen lichtesten Momenten ein Prinzip, das von der Anziehungskraft einer Alltagskultur und dem gelassenen Umgang miteinander getragen wird?

Es war einmal

An Vormittagen liebte ich es nun, mich in den Gängen des Betonlabyrinths zu verlieren, Wetter und Tageszeit verschwanden, wie im Computerspiel stieg ich Treppen hinauf und hinunter, passierte Atrien, zweigte in Nebenkorridore ab, wich über Zwischenpodeste aus, entdeckte Putzstege und erkundete verlassene Dachterrassen. Wo weiter... hier ein Durchgang ... zum nächsten Block – Ariadnes Faden wies ich zurück – war sie es die mich gerufen hatte? – ein Weg war so gut wie der andere. Nach Stunden spie mich die Fluchtstiege in einem der Höfe aus, die Orientierung stellte sich wieder her. Dem Organismus kam ich nur kurzfristig aus. Zögernd aber unausweichlich kehrte ich in den Schoß meiner Wohnung zurück.

1980 war dann das Kaninchen aus dem Hut gezaubert, als ausgewachsenes Prachtexemplar. Zwar hatte die Architektengruppe in einer mehrjährigen Planungsphase insgesamt sieben Zwischenstufen ausgearbeitet, um Forschung, Experiment und Planungsreife zu verbinden. Die Gedanken der frühen Konzepte sollten wie von riesigen Hebeanlagen ans Licht der Oberfläche befördert werden. Als die 6500 Menschen in kurzer Zeit einzogen, wirkte das riesengroße Steuerpult, das ersonnen worden war, um alles Erdenkliche zu berücksichtigen, mit seinen vielen Knöpfen und Reglern und Lämpchen schon klobig und unvollständig.

Wenn der naturkundige Beobachter heute auf dem Gebiet der ehemaligen Froschlacken etwas studieren wollte, dann vielleicht, dass eine umgesetzte Utopie zwar nicht gleich in ihr Gegenteil kippen muss, aber von Anstrengung und Ernüchterung begleitet wird; die Anstrengung der langen Arbeit, eine Vorstellung Wirklichkeit werden zu lassen, und der ernüchternden Ahnung, wie sich die gewünschten Absichten in ihr Gegenteil verwandeln könnten. Ein Stimmungsfirnis, der über den Schöpfwerkgründen gelegentlich anzutreffen wäre.

Die Hauswanderungen wurden zu einer Gewohnheit. Während ich für Stunden treppauf und treppab durch Gänge und Atrien streifte, ohne jemals den Gebäudekörper zu verlassen, fühlte ich mich wie der übermächtige Hausmeister. Mit einem riesigen Schlüsselbund gerüstet der Einzige, der dieses System im Gleichgewicht halten konnte. Die Geräusche wurden mir vertraut und in Nuancen unterscheidbar. Das nächtliche Rumoren in der Wohnung störte mich kaum noch. Ich stellte mir dann vor, dass es die Größe war, die zu sprechen anfing und sich mit meinen Träumen verband, ein nicht endender Gedankenstrom aus dem Betonbauch der Anlage. Ich stellte mir einen Minotaurus wieder Willen vor, unmenschlich, aber fast freundlich. Mit den Arten hier im Einverständnis.

So decken die Wärmedämmplatten nach und nach alles zu und die Anlage erstrahlt im feierlichen Styroporkleid. Die Pünktchen schweben durch die Luft wie in einer Schneekugel. Der Uringeruch auf Stiege 14 bleibt nach dem Anstrich fast verschwunden. Die Renovierung des Nordringes wird noch 2012 abgeschlossen sein, jeder freie Zentimeter mit Taubenstacheln bestückt. Ein zweites Leben beginnt für das Demonstrativbauvorhaben, ohne Titelseiten und Fachzeitschriften. Die Marmorinschriften werden weniger hochtrabend ausfallen.

Auch meine Zeit dort ging zu Ende. Ich hatte um Aufnahme gebeten, atmosphärischen Anschluss gesucht: er wurde mir gewährt. Ein Gleicher unter Gleichen wurde ich nicht, aber wer kann das schon von sich behaupten. Den Schlüsselbund gab ich zurück, die Durchschlüpfe behielt ich im Kopf. Ariadne verließ ich kurz darauf. Neue Abenteuer warten immer.

Gregor Schuberth, gekürzt erschienen in Spectrum, Die Presse, am 10. November 2012
Hier ist man nie allein ›› Artikel Online (Die Presse)

 

Escape from Schöpfwerk
 

Schlaflos in der weißen Arkadenstadt

Linie
Zurück